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Paula ist 17 Jahre alt, hat Liebeskummer und eine Menge Probleme in der Schule. Daran muss sich endlich etwas ändern. Eines Tages entdeckt sie eine Einladung im Internet, die ihre Aufmerksamkeit erregt: „Visionssuche am Mittelrhein für Jugendliche.  Das Geheimnis und die Schönheit in einer Visionssuche durch Fasten, Alleinsein und Ausgeliefertsein in der Natur bestehen darin, dass das Beste in den Initianten zum Vorschein kommt. In der Leere und der Einsamkeit bleibt euch allein die Wahl, soweit zu gehen, wie ihr vermögt. Die Helden in euch kommen zum Vorschein und lassen euch Dinge vollbringen, die ihr selbst nicht für möglich gehalten hättet. (...)“  Das klingt verrückt, aber vielleicht braucht es etwas Verrücktes, um wirklich etwas zu verändern. Sie nimmt die Einladung an.
In dem Sommercamp im Siebengebirge trifft sie fünf Jugendliche, die sich auch dafür entscheiden haben, an der Visionssuche teilzunehmen. Einer von ihnen ist Michael, der auf alles und jeden wütend zu sein scheint. Doch Paula entdeckt bald, dass Michael noch eine andere Seite hat, die sie magisch anzieht. Insgesamt verbringen sie neun Tage im Siebengebirge: Drei Tage lang werden die jungen Leute auf die Zeit der Visionssuche vorbereitet, drei Tage und drei Nächte bleibt jeder für sich allein in der Natur und weitere drei Tage haben sie Zeit, das Erlebte gemeinsam zu verdauen. Diese Erfahrung wird Paulas Leben und von Grund auf verändern.  Roberta White, eine Schamanin aus Kanada, und Klaus Lechner, Sozialpädagoge aus Koblenz, begleiten die jungen Leute auf ihrer Visionssuche.

Buch: Erwachen: Willkommen

Erwachen

Leseprobe

Roberta verteilte an jedes Paar ein dunkles Tuch. Paula legte es Michael um die Augen und band es fest zu. Sie merkte, dass ihre Hände vor Aufregung zitterten. „Siehst du noch was?“, fragte sie. Michael schüttelte den Kopf. Paula sah mit Unbehagen, dass seine Kiefer mahlten.
„Gut, wenn ihr fertig seid, macht euch auf den Weg. Die, die sehen können, passen gut auf, dass der Partner sich nicht verletzt. Lasst ihn seine Umgebung ertasten. Gebt ihm Dinge in die Hand, die er fühlen kann. Und die, die nicht sehen können, dürfen sich viel Zeit dafür nehmen, ihre Umgebung ohne Hilfe der Augen zu erforschen. Nach einer halben Stunde wechselt ihr und der andere ist dran“, hörte sie Klaus sagen.
Paula nahm Michaels linke Hand. Sie fühlte sich heiß und verschwitzt an. Am liebsten hätte Paula sie gleich wieder losgelassen, aber sie zwang sich dazu, seine Hand in ihrer zu behalten, atmete einmal tief durch und sah sich um. Rechts von ihnen führte ein schmaler Pfad an dem kleinen Bach entlang, ein Stück in den Wald hinein. Etwa 100 Meter weiter entdeckte sie ein paar Felsen, die sich am Wegrand auftürmten. Sie zog Michael vorsichtig nach rechts und wartete gespannt auf seine Reaktion. Er folgte ihr mit spürbarem Widerwillen. Paula fragte sich, ob es an ihr lag oder an der Übung, dass er sich so sträubte. Aber egal, schließlich hatte er sich für sie entschieden. Alsomusste er da jetzt durch. Und sie auch.Langsam zog sie ihn weiter und sagte: „Wir gehen einen schmalen Weg entlang. Auf der rechten Seite wachsen Brennnesseln, also pass auf.“ Michael nickte und sagte kein Wort. Er setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. Paula spürte, wie sich seine Anspannung auf sie übertrug und sie fühlte sich dabei sehr unbehaglich. Sie war froh, als sie nach ein paar Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, die Felsen erreicht hatten und führte seine Hand an das kalte Gestein. Endlich konnte sie ihn loslassen. Michael legte auch seine andere Hand auf den Felsen und tastete sich daran entlang. „Pass auf, direkt vor deinen Füßen ist eine dicke Baumwurzel“, warnte sie ihn. Er nickte nur und stieg vorsichtig darüber. Da seine Augen verbunden waren, konzentrierte er sich vollständig darauf, was seine Hände ertasteten. Er ließ sich viel Zeit, den kantigen Fels, der stellenweise mit Moos bewachsen war, zu erkunden. Paula beobachtete ihn aufmerksam dabei. Vor ihnen formte der Fels einen Vorsprung, auf dem man gut sitzen konnte. Das brachte sie auf eine Idee. „Setz dich mal hierhin“, sagte sie zu ihm und lenkte seine Hand auf den flachen Stein. Wortlos nahm er Platz. „Warte einen Moment. Ich hol nur schnell was ...“, fügte sie hinzu. Sie lief ein Stück in den Wald hinein und sah sich hastig um. Sie wollte ihn nicht lange warten lassen, weil sie seine Ungeduld fürchtete. Doch sie fand schnell, was sie suchte. Sie hob ein Stück einer knorrigen Baumwurzel auf, rupfte ein Mooskissen von einem verwitterten Baumstamm, pflückte vorsichtig einen großen Waldpilz ab, der daneben wuchs, und hob schließlich noch einen Kieferzapfen auf. Dann lief sie ans Ufer des Baches, griff ins kalte, seichte Wasser und holte einen Stein heraus. Sie drehte sich um und ging zu Michael zurück, der immer noch ruhig auf dem Felsen saß und keine Miene verzog. „Halt mal deine Hand auf“, forderte sie ihn auf „und sag mir, was du fühlst.“ Er hielt ihr seine rechte Hand entgegen und Paula legte den nassen Stein hinein. Michael schloss seine Finger darum. „Schön kalt!“, sagte er und lächelte zum ersten Mal. Er ließ den Stein ein paar Mal von einer Hand in die andere gleiten, legte ihn beiseite, wischte seine Hände an der kurzen Hose ab und wandte sich wieder Paula zu. Als Nächstes gab sie ihm die Baumwurzel. Langsam ließ der die Wurzel durch seine Hände gleiten, spielte eine Weile damit und legte es zur Seite. „Das ist Holz“, sagte er und hielt ihr die leere Hand hin, um das nächste zu nehmen. Nun gab sie  ihm das Moos und beobachtete, wie er das weiche Gebilde vorsichtig berührte. Paula hatte das Gefühl, dass die Spannung allmählich von ihm abfiel, während er damit beschäftigt war, die Gegenstände zu ertasten. Er hielt sich das Moos an die Nase und roch daran. „Moos.“ „Stimmt!“, bestätigte Paula. Als Nächstes legte sie ihm den Pilz in die Hand. Michael tastete ihn ab und fragte dann grinsend: „Der ist nicht zufällig rot und hat weiße Punkte?“ „Nein, er ist braun.“ Als er auch den Zapfen ausgiebig untersucht hatte, sagte Paula: „Das war’s.“ „Schade. Das macht Spaß“, antwortete er. „Gib mir doch noch was.“ Paula sah sich um. Ein paar Meter vor ihnen hatte sich ein Pfauenauge auf dem Boden niedergelassen und sonnte sich. Paula zögerte kurz, aber dann stand sie auf und näherte sich dem Schmetterling mit leisen Schritten. Es gelang ihr, ihn einzufangen und sie brachte ihn vorsichtig in ihrer hohlen Hand zu Michael.  „Mach mal die Hände zusammen“, forderte sie ihn auf. „Nicht erschrecken. Es lebt, aber es beißt nicht!“, fügte sie schnell hinzu, denn sie wollte, dass der Schmetterling das Experiment überlebte. Vorsichtig ließ sie das aufgeregt flatternde Tierchen in seine Hände gleiten und legte ihre Hände oben drauf, damit es nicht wegfliegen konnte. Michael zuckte kurz zusammen und hielt die Luft an. Paula ließ ihn nicht aus den Augen und  versuchte seine Mimik zu deuten. Sie hörte die leisen, schnellen Flügelschläge in seinen großen, kräftigen Händen. Er musste nur einmal kurz zudrücken, dann würde das Flattern aufhören. Paula fragte sich, ob er dazu imstande wäre. Doch Michael blieb ganz ruhig sitzen. Er wirkte fast wie versteinert. Nur in seinen Mundwinkeln zuckte es leicht und sie fragte sich, was jetzt wohl in ihm vorgehen mochte. Er blieb lange bewegungslos sitzen. Paula kam es vor wie eine kleine Ewigkeit. Als das leise Flattern aufgehört hatte, machte er langsam die Hände auf. Der Schmetterling öffnete unversehrt seine Flügel, blieb noch einen Moment sitzen und flog dann davon.Michael nahm die Augenbinde ab und sah Paula mit ernsten, unergründlichen Augen an und sagte dann: „So, jetzt bist du dran!“ „Okay“, erwiderte Paula und ließ sich von ihm die Augenbinde anlegen. Ihre Anspannung war verflogen. Sie spürte, dass auch Michael die Übung gut getan hatte. Im Grunde scheint er ganz in Ordnung zu sein, wenn er nicht gerade wütend ist, dachte sie.Michael nahm ihre Hand. Seine fühlte sich nun warm und trocken an. Langsam führte er sie vorwärts und Paula spürte, dass die Nervosität in ihrem Magen wieder aufflackerte. Die Dunkelheit war ihr unheimlich. Vorsichtig schob sie einen Fuß vor den anderen. Die Geräusche um sie herum kamen ihr plötzlich laut, fast aufdringlich vor. Sie hörte Vögel zwitschern, einen Eichelhäher schnat­tern, Baumkronen im Wind rauschen, Äste unter ihren Fußsohlen zerbrechen. Sogar die Stimmen der anderen nahm sie auf einmal war. Sie hörte Roberta lachen und Klara sprechen, konnte den Wortlaut wegen der Entfernung aber nicht verstehen. Paula war erstaunt, dass ihr all diese Geräusche vorhin gar nicht aufgefallen waren. „Pass auf, wir gehen jetzt bergauf“, warnte Michael und zog sie langsam mit sich. Sie spürte die Steigung des Weges in ihren Knien und fragte sich, wo Michael sie hinführte. Plötzlich streifte ein Zweig ihr Gesicht und sie erschrak. Unwillkürlich umfasste sie Michaels Hand fester und er erwiderte ihren Händedruck. „Sorry, ich pass jetzt besser auf“, meinte er entschuldigend. Auf dem Weg ließ er sie einen dicken Baum ertasten, dessen Rinde sich warm und zerfurcht anfühlte, einen kalten, glatten Felsen und den Zweig eines Nadelbaums. Paula wusste nicht, wie lange sie sich schon durch das Gelände tastete. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Endlich forderte Michael sie auf, sich auf einen umgestürzten Baumstamm zu setzen und ließ sie einen Moment allein. Sie lauschte seinen Schritten, die sich schnell entfernten, hörte raschelnde Blätter, dann Stille. Wo war er hingegangen? Aufmerksam stellte sie alle Antennen auf Empfang. Inzwischen war ihre Nervosität wieder verschwunden. Sie fühlte sich in Michaels Nähe zu ihrem großen Erstaunen sicher und hatte begonnen, das Experiment zu genießen. Sie staunte darüber, wie viel empfindsamer ihre übrigen Sinnesorgane waren, wenn die Augen nicht zur Verfügung standen. Wie anders sich die Welt anfühlte, wie intensiv alles roch… Und plötzlich wurde ihr bewusst, wie viel sie normalerweise nicht wahrnahm, nur weil ihre Augen mit Sehen beschäftigt waren und alle anderen Eindrücke in den Hintergrund stellten. Kurze Zeit später hörte sie Schritte näherkommen. Michael setzte sich neben sie. „Mach den Mund auf!“, forderte er sie auf. „Iih, nee!“, antwortete sie erschrocken und drehte sich von ihm weg. „Na, los mach schon!“ Sie schüttelte den Kopf und presste ihre Lippen fest zusammen. Auf keinen Fall wollte sie etwas in den Mund geschoben bekommen, das sie nicht sehen konnte! „Hey, jetzt stell dich nicht so an! Ich raste zwar manchmal aus, aber ich bin nicht gemein. Ich vergifte dich schon nicht, keine Sorge“, redete er ihr zu und sie hörte die Enttäuschung in seiner Stimme, dass sie so ablehnend reagiert hatte. Zögernd wandte sie sich ihm schließlich zu und öffnete langsam ihre Lippen, aber nur einen Fingerbreit. Vorsichtig schob er ihr etwas Weiches, Rundes in den Mund. Paula tastete vorsichtig mit ihrer Zunge danach und erkannte sofort, was es war. Sie zerdrückte es mit der Zunge an ihrem Gaumen und schmeckte süßen Saft. „Hm, lecker, eine Himbeere“, sagte sie lächelnd. „Willst du mehr?“, fragte Michael und sie nickte. Sie ließ sich von ihm mit Himbeeren füttern und jede einzelne genüsslich auf der Zunge zergehen. Sie hatte das Gefühl, dass er diese Zeremonie genauso genoss wie sie selbst. Beide sprachen kein Wort. Sie hörte seinen Atem nah an ihrem Gesicht und plötzlich wurde ihr seine Nähe unangenehm. Mit einer schnellen Bewegung nahm sie sich die Augenbinde ab und sah ihn an. Er lächelte und seine braunen Augen sahen sie forschend an. „Danke“, sagte sie schnell. „Aber vielleicht sollten wir jetzt zurückgehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon unterwegs sind.“ Hastig stand sie auf.  „Du kannst die anderen von hier aus sehen. Schau mal!“, erwiderte Michael und zeigte den Hang hinunter. Paula drehte sich um und staunte über den schönen Ausblick. Und sie war sehr froh, dass sie wieder sehen konnte! Sie standen auf einer Anhöhe, im Schatten einer großen alten Buche. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel. So weit ihr Auge reichte, blickte sie über bewaldete oder mit Wein bepflanzten Hügelkuppen. Dort, wo der Rhein zu sehen war, konnte sie auf dem Gipfel eines Berges eine Burg erkennen. „Siehst du die Burgruine? Das ist der Drachenfels“, erklärte Michael. „Da gibt es doch eine Sage …“, erinnerte sich Paula. „Nicht nur eine. Es gibt verschiedene Versionen. Welche kennst du?“ „Da lebte mal ein Drache im Drachenfels. Der wurde von den Leuten immer mit Gefangenen gefüttert. Eines Tages sollte dem Drachen eine junge Christin geopfert werden. Sie wurde in die Höhle des Ungeheuers gebracht. Als der Drache auftauchte, hielt sie ihm in ihrer Todesangst ein kleines Kreuz hin, das sie um den Hals trug. Daraufhin sprang der Drache vor Schreck in den Rhein und verschwand auf Nimmerwiedersehen.“ „Nette Geschichte. Aber meine Version gefällt mir besser: Siegfried, also der aus dem Nibelungenlied, ist eines Tages an der Drachenhöhle vorbeigekommen. Er war ein großer Krieger und hat mit dem Drachen gekämpft. Er hat ihn besiegt und am Ende in seinem Blut gebadet. Und von da an war Siegfried unverwund­bar.“ Paula lächelte. „Woher kennst du diese Sage? Du kommst doch gar nicht von hier, sondern aus Berlin“, fragte sie. „Stell dir vor, und auch in Berlin haben die Leute Computer und Zugang zum Internet“, antwortete er. Also hatte sich Michael genauso wie sie und die anderen im Internet schlau gemacht. Warum auch nicht. Warum hatte sie ihm das weniger zugetraut als den anderen? Plötzlich war es ihr unangenehm, dass sie ihn so falsch eingeschätzt hatte und wandte sich von ihm ab.
Unterhalb von ihnen, nicht weiter als einen Steinwurf entfernt, floss der kleine Bach im Slalom um Birken und Buchen herum. Sie sah Klara und Isabelle am Ufer des Baches auf einem großen Stein sitzen und miteinander reden. Keine von beiden hatte eine Augenbinde um, also hatten auch sie ihre Übung beendet. Paula formte mit ihren Händen einen Trichter vor ihrem Mund und rief laut: „Haalloo!“ Daraufhin drehte sich Isabelle zu ihr um und winkte stürmisch. Auch Klara hob kurz die Hand und Paula winkte zurück. Ein paar Meter von den beiden Mädchen entfernt saßen Klaus, Roberta und Thomas auf einer Wiese und im nächsten Augenblick kamen Stephan und Peter aus dem Wald. Peter hatte noch eine Augenbinde um und hielt sich mit der linken Hand an Stephans Schulter fest, der langsam vor ihm herging. „Lass uns zu den anderen gehen“, schlug Paula vor. Michael nickte und folgte ihr. Schweigend liefen sie zurück.

Buch: Erwachen: Text
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